Deutschlands KI-Potential: Chancen und Herausforderungen im internationalen Vergleich
In Deutschland herrscht die Sorge, wirtschaftlich abgehängt zu werden. Bei der Zukunftstechnologie Künstliche Intelligenz (KI) ergibt sich jedoch ein anderes Bild. In einem Feld ist der Standort sogar „global führend“ – und könnte deshalb zu China und den USA aufschließen.
Der „Mistral-Schock“ und seine Auswirkungen
Man kann es den „Mistral-Schock“ nennen. Erst im Mai 2023 an den Start gegangen, hat das französische Unternehmen Mistral AI sich in weniger als einem Jahr als führendes europäisches KI-Unternehmen etabliert. Das von ehemaligen Mitarbeitern von Google und Meta gegründete Start-up wurde in der jüngsten Finanzierungsrunde mit sechs Milliarden Euro bewertet und gehört damit zu den am höchsten bewerteten Jungunternehmen in diesem Bereich weltweit. Der Senkrechtstarter hat den Blick darauf gelenkt, dass sich in Paris in den vergangenen Jahren eine höchst lebendige Tech-Szene entwickelt hat. Die französische Hauptstadt gilt als führende KI-Metropole auf dem Kontinent.
Deutschland im internationalen Vergleich
Was angesichts des Mistral-Schocks und dem Hype um amerikanische Chatbots wie ChatGPT leicht übersehen wird: Deutschland ist dabei im internationalen Vergleich sehr gut aufgestellt. Die OECD bezeichnet Deutschland als „global führend“ bei der KI-Forschung. Das gilt für öffentliche Forschungseinrichtungen wie das Fraunhofer-Institut und private Firmen gleichermaßen.
Gleichzeitig hat Deutschland es geschafft, viele KI-Experten anzulocken. Das ist nicht trivial: „Es gibt nur eine Handvoll Menschen, die wissen, wie man Modelle baut und trainiert“, sagt Vanessa Parli, Forschungsleiterin am Stanford Institute for Human-Centered Artificial Intelligence (HAI). „Aber auch der Pool anderer KI-Fachleute ist sehr klein. Die Zahl dieser Fachkräfte wird wachsen. Aber wer sie für sich gewinnen kann und wo sie arbeiten, wird auch darüber entscheiden, wo wir die nächsten Durchbrüche in diesem Bereich sehen werden.“
Rechenkapazität und Regulierung: Deutschlands Stärken
Hinzu kommt, dass Deutschland über die nötigen Rechenkapazitäten verfügt. In den USA haben große Cloud-Firmen wie Microsoft oder Amazon die nötige Rechenleistung. Microsoft hat für die Beteiligung am führenden KI-Unternehmen OpenAI auch mit Rechenleistung bezahlt. Start-ups in Europa sind auf den Staat angewiesen. Das Modell von Mistral etwa wurde auf Computern in öffentlichen Einrichtungen trainiert. Deutschland ist hier laut internationalen Experten jedoch gut aufgestellt, nicht zuletzt wegen der Supercomputer, die in Forschungsinstituten stehen.
Ein häufig verkannter Standortvorteil ist die KI-Regulierung. Oft denkt man bei diesem Thema an Verbote oder Einschränkungen. Regulierung gibt aber auch Unternehmen und Verbrauchern die Sicherheit, die nötig ist, um in neue Technologien zu investieren und sie zu nutzen. Deutschland war in dieser Hinsicht ein Pionier: Denn die Bundesregierung war eines der ersten Länder, das KI reguliert hat.
Herausforderungen und Schwachstellen
In anderen relevanten Segmenten liegt Deutschland allerdings zurück. Die OECD warnt unter anderem, dass es hierzulande zu wenig Risikokapital gibt, um junge Unternehmen zu finanzieren. In Frankreich hingegen stellte die staatliche Entwicklungsbank BPI vor einigen Jahren einen Fonds von drei Milliarden Euro zur Verfügung, um junge Deep-Tech-Unternehmen von der Gründung bis zur Marktreife zu finanzieren. Ziel der Initiative: 500 neue Unternehmen pro Jahr.
Eine Schwachstelle hierzulande sehen Experten auch in der Verfügbarkeit und beim Austausch von Daten, sowohl in der Verwaltung als auch in und zwischen Unternehmen. Viele Daten ließen sich nicht verknüpfen, weil Schnittstellen fehlten oder die Daten unterschiedlicher Verwaltungen unterschiedlich strukturiert seien, sagt Pablo Fuentes Nettel vom Beratungsunternehmen Oxford Insights.
Vor allem aber sind die Unternehmen hierzulande gefragt. Die OECD etwa stellt fest, dass Deutschland bei den KI-Grundlagen Spitzenklasse ist, die Technologie aber trotzdem weit weniger genutzt wird als es die Grundlagenstärke vermuten lässt. „Innerhalb der EU nutzen deutsche Unternehmen KI überdurchschnittlich, gehören jedoch nicht zu den Spitzenreitern“, sagt Lucia Russo, OECD-KI-Expertin. Das sei problematisch: Untersuchungen zeigen, dass größere und ohnehin produktivere Unternehmen KI eher nutzen. „Dieses Muster birgt das Risiko, die Produktivitäts- und Lohnunterschiede noch zu vergrößern“, warnt Russo.
Die deutsche Wirtschaft könnte jedoch an einem Wendepunkt stehen. Umfragen hierzulande zeigten in den vergangenen zwei Jahren ein gestiegenes Interesse an KI. „Das deutet darauf hin, dass deutsche Unternehmen an einem Wendepunkt in der KI-Adaption stehen könnten“, sagt Russo. Noch haben sie Zeit, sich darauf vorzubereiten.
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