Wird die Kriminalität in Deutschland stark überschätzt?
Neuere "wissenschaftliche" Kriminalitätsstudien wollen mit allerlei Tricks zeigen, dass die Menschen das Kriminalitätsgeschehen im Lande überschätzen. Die Kriminologie untersucht Ursachen und Erscheinungsformen des Verbrechens. Dass diesem Wissenschaftszweig und seinen Erkenntnissen aber mittlerweile vielfach mit Skepsis oder gar Ablehnung begegnet wird, mussten sich seine Fachvertreter erst hart erarbeiten. Beispielsweise durch solche oder ähnliche Untersuchungen wie die großzügig steuerlich finanzierte Studie zur Clankriminalität der TU Berlin. Die NZZ kommentierte dazu treffend: „Die steuerlich geförderte Verniedlichung der Clankriminalität muss aufhören. Laut einer teuren Studie soll die Gesellschaft an der Kriminalität einiger arabischer Großfamilien schuld sein – weil Deutschland rassistisch sei. Das führt in die Irre, denn die Wurzel des Problems liegt in der kopflosen Migrationspolitik.“
Verzerrte Wahrnehmung oder Realität?
Eine schwierige Frage, die sich immer wieder stellt, ist, ob die Bevölkerung Deutschlands – beziehungsweise eine entsprechende repräsentative Stichprobe – in der Lage ist, die hiesige Kriminalitätshäufigkeit realistisch einzuschätzen. Das Ergebnis von bereits durchgeführten kriminologischen Studien war stets, dass die Befragten eher dazu neigten, die Kriminalität zu überschätzen. Dies wird von den Forschern dann erneut als Beweis genutzt, um darauf hinzuweisen, dass die Lage gar nicht so schlimm sei, wie sie von vielen wahrgenommen werde.
Eine solche Studie hat auch Dr. Deliah Wagner vom Chemnitzer Zentrum für Kriminologische Forschung durchgeführt und sich dazu kürzlich in einem Welt-Interview näher erklärt: Die Kriminalität, so Wagner, werde von den Menschen „stark“ überschätzt. Sie bezieht sich dabei auf die von ihrer Arbeitsgruppe in diesem Jahr veröffentlichte repräsentative Quer- und Längsschnittstudie an initial gut 5.000 Personen, in der es, anders als die WELT-Überschrift behauptet, nicht nur um Gewalt-, sondern die Gesamtkriminalität in Deutschland geht. Ein ja nicht ganz unwichtiger Unterschied.
Unterschiedliche Wahrnehmungen
Im Folgenden soll es nur um die Querschnittsstudie gehen, deren Daten im Frühjahr 2023 an knapp 2.000 Personen erhoben wurden, einer Teilmenge der oben genannten gut 5.000. Die Studienteilnehmer sollten auf einer siebenstufigen Skala einschätzen, wie sich die Gesamtkriminalität in ihrem Landkreis (oder ihrer kreisfreien Stadt) in den fünf Jahren von 2018 bis 2022 wohl entwickelt hat: in etwa gleichgeblieben, mehr oder weniger zu- oder abgenommen? Die Befragten repräsentieren lediglich 355 der insgesamt 400 Landkreise bzw. kreisfreien Städte.
Beim Vergleich zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kriminalität ergab sich, dass die große Mehrheit der Befragten (89 Prozent) der Meinung war, dass die Kriminalität während der vergangenen fünf Jahre zugenommen habe, was aber tatsächlich nur in 33 Prozent der Landkreise und kreisfreien Städte der Fall gewesen sei, während sie in 45 Prozent der Landkreise sogar abgenommen habe und in 22 Prozent gleich geblieben sei. Es fand sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kriminalitätsentwicklung.
Komplexität und Wahrnehmung
Zum einen ist es schon außerordentlich sportlich, von den Befragten zu erwarten, die Entwicklung eines nicht ganz einfachen und zudem recht dynamischen Sachverhaltes rückblickend über einen Zeitraum von immerhin fünf Jahren valide einschätzen zu können. Zum anderen lagen zusätzlich nicht unerheblich erschwerte Bedingungen für die Befragten vor: Wie der im ausführlichen Forschungsbericht enthaltenen (korrekten) Abbildung zur Entwicklung der polizeilich registrierten Straftaten in Deutschland zu entnehmen ist, nahm die Kriminalitätsentwicklung nämlich von 2018 bis einschließlich der beiden Corona-Jahre 2020 und 2021 kontinuierlich ab. Ein Trend, der sich aber dann im Jahr 2022 mit einer Zunahme von 11,5 Prozent recht drastisch umkehrte, gefolgt von einem weiteren Anstieg um 5,5 Prozent im Jahr 2023, der aber schon außerhalb des Beurteilungszeitraumes lag, aber eben nicht außerhalb des Wahrnehmungsbereiches der Teilnehmer.
Kriminalitätsangst an letzter Stelle
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Chemnitzer Studie erscheint es durchaus sinnvoll, einen kurzen Blick auf eine andere Studie zu werfen, die nämlich dokumentiert, dass die Deutschen immer noch – zumindest bis vor kurzem – ein erstaunlich entspanntes Verhältnis zur Kriminalität zu haben scheinen. So rangierte die Angst vor Straftaten in der jährlichen R+V-Befragung zu den Ängsten der Deutschen in 2023, wie auch meist in den Jahren zuvor, an letzter Stelle – von insgesamt immerhin 23 abgefragten Ängsten. Dennoch bildet sich hier die oben erwähnte, seit 2022 wieder ansteigende Kriminalität durchaus deutlich ab: Im Jahr 2023 gaben 24 Prozent an, unter Angst vor Straftaten zu leiden, in den drei Jahren zuvor waren das nur 18 bzw. 19 Prozent.
Fazit
Die Kriminalitätswahrnehmung scheint unabhängig vom Alter zu erfolgen, was etwas überrascht, da sich in anderen Studien meist ein positiver Zusammenhang mit dem Alter findet: Je älter, desto höher die Kriminalitätswahrnehmung. Ansonsten weisen die ermittelten Korrelationen darauf hin, dass die wahrgenommene Kriminalitätsentwicklung umso höher ausfiel, je stärker die Angst der Befragten davor war, Opfer einer Straftat zu werden und je stärker ihr Schutz- und Vermeidungsverhalten ausgeprägt war.
Warum die Chemnitzer Kriminologen allerdings vollständig darauf verzichten, die Geschlechtszugehörigkeit bei ihren statistischen Analysen zu berücksichtigen, bleibt ihr Geheimnis. Aus fachlicher Sicht ist das allerdings völlig unverständlich, muss doch angesichts der sonstigen Forschungslage zwingend davon ausgegangen werden, dass die Kriminalitätsfurcht bei Frauen deutlich stärker ausgeprägt ist. Es kann folglich begründet vermutet werden, dass es durch diesen kleinen Kunstgriff der Unterlassung, also den Verzicht auf die Darstellung geschlechtsspezifischer Ergebnisse, dem Chemnitzer Forschungskollektiv gelang, das ihnen besonders am Herzen liegende Hauptergebnis eines fehlenden statistischen Zusammenhangs zwischen gefühlter und tatsächlicher Kriminalitätsentwicklung zu retten.